Schlechtes Zeugnis für Deutschland bei Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung
Im Rahmen des Inklusionsgipfels stellte die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention (Deutsches Institut für Menschenrechte) ihre Studie Inklusive Bildung: Schulgesetze auf dem Prüfstand vor.
Das Fazit der Studie ist mehr als ernüchternd und stellt Deutschland und dem Großteil seiner Bundesländern ein sehr schlechtes Zeugnis bei der Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung aus.
„In der Gesamtschau ist in keinem Bundesland nach gegenwärtigem Stand ein abschließend entwickelter rechtlicher Rahmen erkennbar, der, am Maßstab der Vorgaben aus dem Recht auf inklusive Bildung gemessen, den Aufbau und die Unterhaltung eines inklusiven Bildungssystems hinreichend oder gar adäquat gewährleisten könnte. (…) Insgesamt bleibt der Umsetzungsstand hinter den Erwartungen, die man an die Implementierung des Menschenrechts auf inklusive Bildung fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland stellen darf, zurück. Es sind noch erhebliche Anstrengungen erforderlich, bis die Rede davon sein kann, dass das deutsche Schulrecht – und zwar das gesetzliche wie das untergesetzliche – die verbindlichen Vorgaben des Rechts auf inklusive Bildung hinreichend oder gar vollständig umsetzt und erfüllt.
Ein Interview zur Studie mit Dr. Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, vom Deutschen Institut für Menschenrechte finden Sie im folgenden Dokument ab Seite zwei:
Pressemappe UNESCO-Gipfel Inklusion
Einige Studienergebnisse der Autoren Dr. Sven Mißling und Dipl-Jur. Oliver Ückert:
- In allen Bundesländern ist heute die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen – überwiegend sogar an den allgemeinen Schulen – rechtlich zumindest möglich und als Regelfall vorgesehen. Allerdings gibt es in den meisten Ländern weitreichende Einschränkungen oder Vorbehalte. Der Sache nach halten alle Länder grundsätzlich an dem Förderschulsystem, das eine getrennte Beschulung fördert und institutionell verfestigt, fest.
- Den unbedingten Rechtsanspruch von Schülerinnen und Schülern auf Zugang zu einer allgemeinen Schule mit gemeinsamem Unterricht und inklusiver Beschulung haben nur wenige Länder voll verwirklicht, obwohl er zwingend von den Ländern zu gewährleisten ist.
- Die Zuweisung zu einer allgemeinen Schule darf nicht, wie zurzeit in allen Bundesländern der Fall, außer in Hamburg, unter einen Ressourcen- und Organisationsvorbehalt gestellt werden. Solche Vorbehalte sind, wie auch ein allgemeiner Finanzierungsvorbehalt und ein Kapazitätsvorbehalt, gemessen am völkerrechtlichen Maßstab der UN-Behindertenrechtskonvention unzulässig.
Folgende zwölf Kriterien wurden in den Bundesländern im Einzelnen untersucht (siehe Studie S. 24):
- der Vorrang des gemeinsamen Unterrichts,
- die institutionellen Voraussetzungen für inklusive Bildung,
- die Schulentwicklungsplanung,
- Fragen der Kostentragung, der Ressourcenzuweisung und des Haushaltsrechts,
- die Frage nach dem Rechtsanspruch auf Zugang zum allgemeinen Bildungssystem und
- dem Anspruch auf „angemessene Vorkehrungen“,
- das Problem des sogenannten Organisations- und Ressourcenvorbehalts,
- die Barrierefreiheit des tatsächlichen Zugangs zu Bildung,
- zieldifferenter Unterricht,
- die Frage nach Partizipation sowie
- die Bildungsziele und Fragen der Menschenrechtsbildung und
- die Aus- und Weiterbildung von Pädagoginnen und Pädagogen.
Aus den Anmerkungen der Autoren:
„Vorschriften, die es den Schulbehörden im Rahmen der Zuweisungsentscheidung zu einer Sonderschule erlauben, eine (zwangsweise) Zuweisung an eine Sonderschule an Eigenschaften wie die subjektive Fähigkeit des Kindes zur Erfüllung der curricularen Vorgaben an einer allgemeinen Schule anzuknüpfen, stellen eine systematische Diskriminierung dar und sind aufzuheben (Artikel 5 Absatz 2 UN-BRK).“ S.27
„Problematischer ist die Situation, dass insbesondere die Sonderschulen Beratungs- und Diagnoseaufgaben im Rahmen sonderpädagogischer Förderung und vor allem im Zusammenhang mit der Bestimmung der zu besuchenden Schule selbst übernehmen. In der Praxis ist zu beobachten, dass hier durchgeführte Diagnostikverfahren häufig mehr oder weniger automatisch zu einer Zuweisung der betroffenen Kinder zu einer Sonderschule führen.“ S.29-30
„Die Pflicht zur Schaffung eines individuellen Anspruchs auf Zugang zu einer allgemeinen Schule mit gemeinsamem Unterricht kann als rechtliches Herzstück des Konzepts eines inklusiven Bildungssystems im Sinne der UN-BRK bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um eine sofortige Erfüllungspflicht, das heißt: sie ist prinzipiell sofort mit Inkrafttreten der UN-BRK für den jeweiligen Vertragsstaat umzusetzen, (…).“ S.35
„Sowohl ein allgemeiner Finanzierungsvorbehalt als auch der im Schulrecht der meisten Länder angeordnete Organisations- und Ressourcenvorbehalt und der Kapazitätsvorbehalt sind gemessen am völkerrechtlichen Maßstab der UN-BRK (Artikel 24 Absätze 1 und 2 UN-BRK) unzulässig.“ S.42
„Darüber hinaus besteht die Pflicht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um bestehende Zugangshindernisse und -barrieren zu den Schulen schrittweise abzubauen, die Schülerinnen oder Schüler davon abhalten könnten, vorrangig die allgemeinen Schulen ungehindert zu besuchen. Dies betrifft vor allem die bauliche Situation der Schulen.“ S.44
„Ein inklusives Bildungssystem ist nur barrierefrei, wenn auch die inhaltliche Zugänglichkeit gewährleistet ist. Das heißt, dass Inhalte der schulischen Bildung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung in geeigneter Form zur Verfügung gestellt werden müssen. Insbesondere Lehr- und Lernmittel, beispielsweise Schulbücher, müssen entsprechend gestaltet sein.“ S. 45
„Die systematisch getrennte Ausbildung von Lehrkräften für die allgemeinen Schulen einerseits und von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen andererseits wird – wie das deutsche Sonderschulsystem insgesamt – den Anforderungen eines inklusiven Bildungssystems nicht gerecht. Aus der völkerrechtlichen Verpflichtung zur schrittweisen Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems folgt auch, dass die gesonderte Sonderschullehrerausbildung, wie sie zur Zeit in allen Bundesländern noch vorgesehen ist, auslaufen und zu einer einheitlichen Lehrerausbildung mit inklusionspädagogischen Inhalten umgestaltet werden muss.“ S.53
Und hier finden Sie die komplette Studie: Inklusive Bildung: Schulgesetze auf dem Prüfstand