Die Geschichte von Peter, Paul and Mary
Mary ist das mittlere Kind einer jungen Familie. Sie hat ein Trisomie 21, das sogenannte Down-Syndrom. Sie wächst mit einer zwei Jahre älteren Schwester und einem zwei Jahre jüngeren Bruder mit Vater und Mutter in einem Einfamilienhaus auf. Beide Eltern sind berufstätig; sie teilen sich die Betreuung der Kinder, unternehmen an den Wochenenden und in den Ferien viel mit den Kindern. Mary besuchte vom 2. Geburtstag an ein Jahr lang einen Sonderkindergarten, danach einen Integrativen Kindergarten im Nachbarort. Peter ist das lang ersehnte Einzelkind. Als Folge eines Sauerstoffmangels während der Geburt trat die Schädigung ein, die zu tetraspastischen Lähmungen geführt hat. Vater und Mutter haben seit seiner Geburt alle ihnen zugänglichen Therapien genutzt. Er besucht seit dem 3. Lebensjahr einen Integrationskindergarten und kann seinen kleinen Rollstuhl über kurze Distanzen eigenständig bewegen. Er ist auf Kommunikationshilfen angewiesen und freut sich auf die Schule. Paul kommt aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund. Er hat einen drei Jahre älteren Bruder, der eine Förderschule mit dem Schwerpunkt ‚Lernen‘ besucht. Der Vater arbeitet im Schichtbetrieb, die Mutter ist halbtags berufstätig. Im Kindergarten wurde bei Paul eine sprachliche und kognitive Entwicklungsverzögerung festgestellt.
Peter Paul and Mary im Gemeinsamen Unterricht, im inklusiven Unterricht?
Fünf Thesen aus Sicht einer Grundschullehrerin: Anne Höfer, Friedrich von Bodelschwingh-Grundschule in Kreuztal
1. Gemeinsamer Unterricht ist nicht viel anderes als guter Grundschulunterricht.
Peter, Paul and Mary brauchen für ihren weiteren Lernweg das, was auch in den Richtlinien der Grundschule steht: individuelle Förderung. Kinder mit Behinderung brauchen nichts grundsätzlich anderes als Kinder ohne Behinderung. Die Bandbreite der Heterogenität wird größer und wie unter einer Lupe wird sichtbar, was doch eine gute Schule für alle Kinder wäre:
♦ Lehrerinnen und Lehrer, die vor allem auf die Stärken eines Kindes achten ♦ ausreichend Zeit, genügend Platz, Rückzugsräume ♦ herausfordernde Begegnungen mit anderen Kindern und verschiedenen Erwachsenen; Modelle, an denen ich wachsen ♦ Ermutigung statt Zensuren ♦ Umwege zulassen ♦ keine Selektion
2. Unter den jetzigen Rahmenbedingungen ist schon viel mehr integrativer Unterricht möglich als es tatsächlich gibt.
Manche Vereinfachungen finde ich in der Diskussion um den Gemeinsamen Unterricht einfach ärgerlich. Warum bemühen die Gegner der Inklusion so häufig das Bild eines schwerstmehrfachbehinderten Kindes oder eines sehr stark verhaltensauffälligen Kindes, um zu sagen: „Gemeinsamer Unterricht, das geht nicht.“? Die weitaus größte Gruppe der Kinder in Förderschulen hat den Förderbedarf Lernen oder Sprache. Warum nicht zuerst mit diesen Kindern anfangen? Sich die Unterstützung einfordern, die vorgesehen ist, auf die eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen vertrauen und nicht zuletzt auf die Kinder selbst und – anfangen! Liebe Kolleginnen und Kollegen: machen Sie sich nicht so klein – Sie können das! Paul kann auch unter den jetzigen Rahmenbedingungen in seine wohnortnahe Grundschule gehen. Und wer in der integrativen Arbeit steckt, der hat es dann leichter, bessere Rahmenbedingungen einzufordern und – der wächst mit seinen Aufgaben. In unserer Klasse haben wir eine „Mary“. Und sie ist auch unter den heutigen Rahmenbedingungen kein Problem, sondern eine Bereicherung!
3. Für einen qualitativ hochwertigen, umfassenden inklusiven Bildungsanspruch müssen die Rahmenbedingungen allerdings noch deutlich verbessert werden.
Damit Peter, Paul and Mary wirklich in jeder Schule willkommen sind und in jeder Schule einen guten Ort für ihre Entwicklung finden, brauchen wir noch vieles. Wir brauchen nicht nur Aufzüge, Wickel- und Therapieräume und überhaupt mehr und andere Räume. Wir brauchen festangestellte Sonderpädagogen in jeder Schule, damit eine dauerhafte Teambildung möglich ist. Wir brauchen vernünftige Klassengrößen, vernünftige Raumausstattung, Integrationshelfer, den Ganztag für alle. Wir brauchen nicht zuletzt eine deutliche Reduzierung der Stundenzahl der Lehrkräfte, weil individuelle Förderung eine intensive Vorund Nachbereitung des Unterrichts benötigt. Wenn jede Schule so gut aufgestellt wäre, dass AOSF-Verfahren überflüssig werden, dann erst haben wir wirkliche Inklusion.
4. Der Gemeinsame Unterricht hört noch viel zu oft nach der Grundschule auf. Eine inklusive Schule für alle stellt das gegliederte Schulsystem in Frage.
Zu dieser These ließe sich viel Schmerzhaftes berichten. Grundschullehrerinnen und – lehrer leiden mit den Kindern, egal ob nun offiziell mit oder ohne Behinderung, und ihren Eltern am viel zu frühen und unnötigen Aussortieren. Und wir hoffen, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die in dem System der weiterführenden Schulen stecken und es viel besser kennen als wir – und die auch oft daran leiden – , dass die eine Systemänderung aktiv herbeiführen. Der Gedanke der Inklusion kann zu einer enormen Qualitätssteigerung in unserem Schulsystem führen, die ALLEN Kindern zugute kommt. Denn es wäre doch grotesk: Am Ende ihrer Grundschulzeit wechselt Mary, die in Ansätzen schreiben und lesen kann und bis 20 rechnet, auf ein „inklusives“ Gymnasium. Ihre Freundin geht zur Hauptschule, obwohl sie gerne und verständlich Geschichten schreibt, sicher bis 1000 rechnet und sich bei größeren Zahlen mit dem Taschenrechner zu helfen weiß.
5. In Sachen „GU – ja oder nein“ wird jetzt oft gesagt: „Die Zeit des Wollens ist vorbei, jetzt muss es GU geben.“ Stimmt, aber bei dem, der will, klappt es besser.
Wenn ich als Lehrerin, wenn unsere Schule, wenn unser Schulamt und wenn die Bezirksregierung und die Landesregierung wirklich wollen und darum Ressourcen und Kraft in dieser wichtigen Aufgabe bündeln, dann klappt es viel besser. Seit gut 4 Jahren arbeite ich im Gemeinsamen Unterricht. Ich will es nie mehr anders haben. Ich will auf Peter, Paul and Mary nicht verzichten.